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Werner Wilkening

Vision Solidarität: Schweden/Deutschland (... und Europa?)

Überlegungen zu unserem Thema

Worum geht es bei diesem Thema? ... Und warum?

1990 hatte Schweden durch Umverteilung (Staatsquote 52%) und ein mehrheitlich akzeptiertes, solidarisches Gesellschaftskonzept ('Folkhemmet') ein solches Maß der Ausbreitung hoher Lebensqualität, großer Chancengleichheit und des Ausgleichs krasser Einkommensunterschiede erreicht, das anderswo praktisch unerreicht war.

Die Besonderheit des schwedischen Entwicklungsstandes war jedoch 1990 auch vielen schwedischen 'Normalbürgern' nicht klar, weil den meisten praktische Vergleichsmöglichkeiten fehlten (Ausnahme: öffentlich bedienstete schwedische Zahnärzte, die im Urlaub auf Teneriffa auf deutsche Zahnarzt-Millionäre trafen). So gewöhnten sich viele Schweden an Vollbeschäftigung, ein lückenloses Gesundheitssystem, das diesen Namen verdient, ein zeit- und flächendeckendes System der öffentlichen Kinder- und Altenbetreuung, das den schwedischen Frauen eine sehr hohe Erwerbsbeteiligung (von 83%, bei praktisch gleichen Löhnen wie Männer) ermöglicht hat.

Sie gewöhnten sich auch noch an viele andere gute Dinge.

Nur wenige Beispiele:

So entwickelten sich Ausbildungs-, Fort- und Weiterbildungssysteme, aber auch eine politische und gesellschaftliche Jugend- und Erwachsenenbildung, die die Idee lebenslangen Lernens befördern und die vom Arbeitsmarkt geforderte hohe Berufsqualifikation besser auf dem jeweils aktuellen Stand halten helfen.

Jahre vor dem Rest Europas gab es Rechtsregelungen wie die Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe, das Verbot der Körperstrafen auch gegenüber den eigenen Kindern. Dort wurden zuerst Konsequenzen aus dem Wandel der Familie gezogen: Schutzrechte für eheähnliche Verbindungen und deren Kinder, Schutzrechte für Minderheiten, Diskriminierungsverbote. (Jeder deutsche Fachmann und jede deutsche Fachfrau auf diesen und anderen Gebieten weiß, wie lange Deutschland dem hinterher gehinkt ist und in manchen Bereichen diese Ziele nie erreicht hat).

Aus der Sicht vieler der unterschiedlich benachteiligten Menschen in den dunkleren Ecken Europas und der Welt sind diese Beispiele eine Perlenkette von kleinen, konkreten Alltags-Utopien, von denen die meisten kaum zu träumen wagen, geschweige denn: sie zu fordern.

Alle diese Dinge haben natürlich auch in Schweden Geld gekostet. Aber die Staatsquote war trotzdem niedriger (ca. 53%) als bei uns im Rausch der Wiedervereinigung, Nicht alle Schweden haben gerne Steuern gezahlt, aber die Mehrheit hat nach Umverteilungsregelungen (speziell Kindergeld, Wohnungsgeld) einen besseren Lebensstandard und bessere Lebensqualität gehabt als bei uns im Wirtschaftswunderland, insbesondere Familien mit Kindern.

Die Finanzierung der Gleichheitsziele ist immer auch ein Balance-Akt in puncto Inflationsrisiken und Staatsverschuldung gewesen, die schwedische Regierungen in den letzten Jahrzehnten meistern lernen mussten. Die Beherrschung dieser Risiken ist daher auch ständig Gegenstand der gesellschaftspolitischen Debatte und des Regierungshandelns gewesen.

Aus all dem ließe sich bei Vergleich mit Deutschland manches lernen, vielleicht sogar für ein zukünftiges 'Modell Europa', wenn man sich erst einmal von der gern publizierten Lüge frei macht, dieses Modell sei "zusammengebrochen". Die Wahrheit ist, dass die vorweggenommene Unterwerfung unter die erwarteten "Harmonisierungs"-Forderungen der EU das schwedische Modell fast in den totalen Ruin getrieben hätte. Die Steuer-"Reform" von 1991 war das erste Selbsttor; die Folge: Die Krise des Kreditwesens und der Banken. Der nächste Streich: Der spezifische Auslöser war die Aufhebung der Kapitalverkehrskontrollen im Spätherbst 1992 durch die damalige schwedische Regierung. Mit Hilfe von Interventionsaufkäufen durch die Reichsbank versuchte die Regierung die massive Abwertung (ca. 25%) der Schwedenkrone durch die Attacken der internationalen und der heimischen Währungs-Spekulanten (vor allem die große Export-Industrie) abzuwehren. In diesem Kampf scheiterte die Reichsbank, und hat dabei die schwedische Außenverschuldung binnen weniger Monate mehr als verdoppelt. ,,Auf dem Wege nach Europa" wurde das schwedische Modell des Wohlfahrtsstaats erdrosselt.

Was ist seitdem geschehen? Was ist seine Zukunft? Was haben die zum Teil neo-liberal getönten Rettungsversuche gebracht? Ausgeglichene Staatsfinanzen und Rekordarbeitslosigkeit? Dies sind die gleichen Fragen, die sich die Bundesrepublik Deutschland zu stellen hat, jedenfalls alle diejenigen, die den Begriff und die Praxis von Solidarität nicht zur Phrase verkommen lassen wollen. - Fragen und Entscheidungsalternativen für ein solidarisches "Modell Europa"?

In den letzten Jahren ist Mode geworden, konkrete Solidarität für 'altmodisch' zu erklären, für irreal und unfinanzierbar. ('Der Markt regelt alles!', Konkurrenz ist heilsam und überlebensnotwendig, Solidarität macht bequem, anspruchsgeil, ineffektiv und bürokratisch; Privatisierung ist gut - für wen? - insbesondere bei Versorgungsmonopolen wie Wasser und Straßenbahn!).

Unter dem Diktat angeblicher Spar-'zwänge' (Globalisierung!!) droht Kompromissgewohnheit in Resignation, Resignation in Lethargie und am Ende in Apathie umzuschlagen. Nun weiß man aber: Apathie gepaart mit Gefühlen der Hilflosigkeit und Ohnmacht verlangen nach autoritären Lösungsangeboten (Deutschland 1933). Was zu der Frage führt: Wer kann das wollen? (Damals war es der Düsseldorfer Industrieclub.)

Informierte Zeitgenossen wissen: In Sparzwang-Zonen (USA, England, BRD) steigt die Zahl der Millionäre epidemisch, die der Milliardäre eruptiv. Dieses viele Geld ist - so wie die Dinge derzeit liegen - für die Verwirklichung solidarischerer Gesellschaftsentwürfe nicht verfügbar. Die Kernfrage ist: Wollen wir das (so) in Europa?

Kein Land allein kann in Europa die unheilvolle Macht der herrschenden Orthodoxie auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik brechen. Die Vorherrschaft der sogenannten 'neo-liberalen', angebotsorientierten Wirtschaftstheorie und -politik ist es, die solche schreienden Widersprüche, wie die vom privatem Reichtum und öffentlicher Armut scheinheilig als notwendig zum allgemeinen Wohl zu rechtfertigen versucht.

Wie wir gerade wieder erfahren haben, gehört zu diesem neo-darwinistischen Gesellschaftsmodell auch, dass seine Ideologen Gleichheits-Ideale als 'Neid' verleumden.

Was wir brauchen ist etwas Mut, mehr Beherztheit, weniger intellektuelle Korrumpierbarkeit (Wie viele Nobelpreisträger haben schon geirrt!).

Vielleicht können wir etwas Mut schöpfen, wenn wir die Entwicklungsunterschiede zwischen Schweden und Deutschland analysieren. Das sind Fakten, Fakten, Fakten - keine Theorie. Theorie, so weit sie im Spiel war, z.B. von Keynes, ist realitätsgetestet. Risiken und Nebenwirkungen liegen zutage und sind verarbeitet. All dies kann man hinterfragen, und diskutieren wollen wir das auch. Hoffentlich verhilft es uns wirklich zu etwas mehr Mut und befördert das

Ende der falschen Bescheidenheit.


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Zuletzt geändert am 03.11.98. Technische Kommentare bitte an: fsie.eefg@t-online.de